Karen Scrivener, Leiterin des Labors für Baumaterialien an der EPFL in Lausanne, forscht über Baustoffe, die unser Leben prägen und es bald nachhaltig verbessern sollen – was noch nicht der Fall ist.

Ursprünglich veröffentlicht in der NZZ

Knallharte Materie – das liegt ihr. Karen Scrivener ist eine renommierte Exper­ tin für die weltweit am häufigsten ver­ wendeten Baustoffe: Beton und Ze­ ment. Doch das Bindemittel Zement ist als «Klimakiller» in Verruf geraten. Die Professorin hält dagegen. Die Lei­ terin des Labors für Baumaterialien an der EPFL in Lausanne kann nicht nur auf richtungsweisende Forschung für eine energieeffizientere Betonproduk­ tion verweisen. Sie hat auch die globale Bautätigkeit im Blick – und verfolgt grosse Pläne.
Ob Brücken, Hochhäuser oder Bun­ galows – der graue, künstliche Stein, der sich schier grenzenlos formen lässt, ist aus unserem Leben gar nicht wegzuden­ ken. Doch bei vielen löst er vor allem wegen der Treibhausgasemissionen we­ nig Begeisterung aus. Anders bei Karen Scrivener, die sich schon seit 40 Jahren für Beton begeistert – auch wenn das öf­ fentliche Interesse daran erst im Zusam­ menhang mit dem Klimawandel gewach­ sen ist. Die Materialwissenschaftlerin wird immer wieder gefragt, wie sie über­ haupt zu diesem Thema gekommen sei. Für die Antwort holt sie ein bisschen aus: «Ich wollte mich immer mit dem rea­ len Leben befassen. Und als ich ein Pro­ motionsthema suchte, habe ich mich an verschiedenen Unis umgeschaut. Beim Thema Metalle lagen die spannends­ ten Entwicklungen schon 100 Jahre zu­ rück. Ein Professor am Imperial College in London machte mich schliesslich auf das Thema aufmerksam. Da war Poten­
zial, das hörte sich interessant an.»

Wissenslücken geschlossen

Für sie ist es nach wie vor unglaub­ lich, dass wir so viel mit Beton bauen und dabei so wenig darüber wissen.
«Es sieht so einfach aus: Wir mixen ein graues Pulver mit Wasser und fertig ist ein stabiler Baustoff. Doch hier laufen komplexe chemische Reaktionen ab», erklärt die Wissenschaftlerin. Im Ver­ gleich zu den Biowissenschaften gibt es jedenfalls noch reichlich weisse Flecken in der Forschung über Zement.

In ihrer langen Karriere in der Wis­ senschaft und auch in der Zementindu­ strie hat Karen Scrivener viel dazu bei­ getragen, diese Lücken zu schliessen. Die Britin forscht daran, wie man die Verfahren bei der Betonproduktion mit Blick auf die mechanischen, vor allem aber auf die Umwelteigenschaften des Baustoffs verbessern kann. Angesichts der weltweiten Bemühungen um eine Reduktion von Treibhausgasemissio­ nen ist dies wichtiger als je zuvor.

Denn die zentralen Bestandteile von Beton sind Zement und diverse Zuschlagstoffe wie Kies, Sand, Splitt oder Bims. Man erhält den heutigen so­ genannten Portlandzement durch das Brennen von Kalkstein bei sehr hohen Temperaturen zu Klinker. Dies führt in doppelter Weise zu hohen Emissionen: einerseits durch den Energieeinsatz, an­ dererseits dadurch, dass der Kalkstein beim Brennen in Kalziumoxid zerlegt wird. Diese chemische Reaktion ist im­ merhin für 60 Prozent der Emissionen verantwortlich. Technisch sei es jedoch nahezu unmöglich, so Scrivener, diese Emissionen vollständig zu eliminieren.

Jedes Jahr produzieren wir weltweit 30 Milliarden Tonnen
zementbasiertes Material.

Suche nach Ersatzstoffen

Ein Ansatzpunkt, um den CO2­Ausstoss dennoch zu verringern, besteht da­ rin, den Klinkeranteil zu reduzieren und durch andere Stoffe wie gebrannten Ton zu ersetzen. Bei der Suche nach idea­ len Substituten ist der Wissenschaftlerin und ihrem rund 30­köpfigen, interdiszi­ plinären Team gemeinsam mit ande­ ren Forschungs­ und Industriepartnern ein echter Durchbruch mit dem «Lime­ stone Calcined Clay Cement» gelungen. Dieser kalzinierte Ton kann bei nur 800 Grad Celsius statt bei 1450 Grad Celsius gebrannt werden und setzt kein CO2 durch den chemischen Prozess frei. Die sogenannte LC3­Technologie macht die Betonproduktion billiger, weniger kapi­ talintensiv und spart bis zu 40 Prozent Kohlendioxid. Der potenzielle Hebel zur weltweiten CO2­Reduktion ist mit geschätzten 400 bis 800 Millionen Ton­ nen pro Jahr enorm gross.
Die Wissenschaftlerin weiss, dass Beton heute dennoch vielen pauschal als umweltfeindlich gilt. «Aber das ist falsch», widerspricht sie in entschiedenem Ton. Für sich genommen habe Beton pro Kilogramm im Vergleich zu anderen Materialien den geringsten CO2­Fuss­ abdruck. Beton hält lange, der Lebens­ zyklus ist also positiv. Die Professorin sieht das ökologische Problem auch nicht in erster Linie im Baustoff selbst, son­ dern in der gigantischen Menge, die tag­ täglich verbaut wird. «Jedes Jahr produ­ zieren wir weltweit 30 Milliarden Tonnen zement­basiertes Material (Beton, Mör­ tel), das ist gewaltig und deutlich mehr als alle anderen Materialien zusammen­ genommen, die der Mensch überhaupt verbraucht.»

Betonhaus mit Holzboden

Diese unvorstellbare Menge – und da­ rin zeigt sich ein echtes Dilemma – be­ legt, wie riesig der Bedarf weltweit ist.
«Ein Betonbaustopp ist keine Option für Schwellenländer», betont Karen Scrivener. Schliesslich lebt heute noch immer mehr als eine Milliarde Men­ schen in Slums. Wenn es darum geht, neue Häuser zu bauen, ist Beton nun einmal preiswert, leicht zu transportie­ ren und immer verfügbar – die Roh­ stoffe sind in der Erdkruste reichlich vorhanden.
Beton komplett durch Holz zu erset­ zen, ist für Scrivener keine Lösung. Holz könne maximal fünf bis zehn Prozent des globalen Bedarfs an Baumaterial liefern und sei keine Lösung für den Globalen Süden. «Es ist ein perfek­ tes Material, aber es gibt einfach nicht genug Fläche für den Wald, den man bräuchte – und wir haben auch nicht 30 Jahre Zeit, bis genügend Bäume ge­ wachsen sind.» Sie selbst wohnt auf dem Land in einem Haus aus Beton. «Aber es hat immerhin einen schönen Holzbo­ den», sagt sie mit einem Lachen.
Die Professorin plädiert für realis­ tische Lösungen und hat stets die Um­ setzung von Forschung in das «richtige Leben» im Blick. Nicht von ungefähr drehte sie der akademischen Welt auch schon einmal den Rücken, um sechs Jahre in der Industrie, bei Lafarge in Lyon, zu arbeiten.

Globale Partnerschaften

Wie sieht die Zukunft des Bauens im Einklang mit den Klimazielen der Schweiz und der Welt dann ihrer Meinung nach aus? «Wir können nicht total auf Beton verzichten und werden auf viele verschiedene Materialien set­ zen müssen. In der Klimadebatte ist es entscheidend, nicht durch Verabsolu­ tierungen die Chancen zu verpassen, in bereits bestehenden Technologien den Energieverbrauch zu reduzieren.» Für den Beton rechnet sie vor, dass man auf der Ebene der Zementherstellung allein bis zu 30 Prozent Emissionen, bei der Reduktion des Zementanteils im Beton weitere 20 bis 30 Prozent und bei der Menge des Betons im Gebäude sogar bis zu 50 Prozent einsparen könne. Das wären enorme Fortschritte.
Die grosse Herausforderung dabei sei, so Karen Scrivener, alle am Bau­ prozess Beteiligte an einen Tisch zu bringen – und das weltweit. Ihr neues grosses Projekt ist ein «Center for Worldwide Sustainable Construction», das eng mit der Industrie kooperiert und Doktoranden, vor allem Stipendia­ ten aus ärmeren Staaten, ausbildet. Sie sollen die neuesten Lösungsansätze in ihre Länder tragen. «Solche globalen Partnerschaften sind wichtig, denn der Klimawandel betrifft die ganze Welt.»

Zur Person

Karen Scrivener, 1958 in England gebo­ ren, erhielt 2001 den Ruf an die EPFL in Lausanne als ordentliche Professo­ rin und Leiterin des Labors für Bauma­ terialien am Institut für Materialwissen­ schaften und Ingenieurwesen (LMC). Sie setzt sich aktiv für die Förderung nachhaltiger Zemente ein und gründete 2004 das Nanocem, ein Konsortium von rund 30 akademischen und industriel­ len Partnern, das entsprechende Grund­ lagenforschung betreibt und institutio­ nell in die Globale Zement und Beton Alliance übergegangen ist. Gemeinsam mit Universitäten und Organisationen in Neu­Delhi, Chennai und Kuba, mit der Schweizer Entwicklungszusammenar­ beit und führenden Zementherstellern entwickelte Karen Scrivener das LC3­ Projekt («Limestone Calcined Clay Ce­ ment»). 15 Jahre war sie Chefredaktorin des wissenschaftlichen Journals «Ce­ ment and Concrete Research», wurde 2014 zum Fellow der Royal Academy of Engineering gewählt und erhielt meh­ rere renommierte Auszeichnungen.

CORNELIA GLEES